Frau am See

Kneipp-Bund: „Das Gesundheitskonzept ist eine Investition in die Zukunft“

200 Jahre Sebastian Kneipp und 150 Jahre Gesundheitskonzept nach Kneipp – das Schaffen des Wasserdoktors und Seelsorgers ist beachtlich. Vor allem, dass sich seine Thesen zur Gesunderhaltung des Körpers und des Geistes über einen so langen Zeitraum gehalten haben. Wir wollen diesem Phänomen auf den Grund gehen und befassen uns anlässlich des Jubiläums intensiv mit seinen Lehren.

Das Kneipp-Jahr steht unter dem Oberbegriff „Integrative Medizin“. Doch wie lassen sich überlieferte, einfache Methoden mit medizinischen, wissenschaftlichen Kenntnissen vereinbaren? Dazu haben wir ein Interview mit Dr. med. Hans-Georg Eisenlauer, Orthopäde, Kneipparzt und Vizepräsident des Kneipp-Bundes, geführt.

Porträt Dr. med. Hans-Georg Eisenlauer, Orthopäde, Kneipparzt und Vizepräsident des Kneipp-Bundes
Dr. med. Hans-Georg Eisenlauer ist Orthopäde, Kneipparzt und Vizepräsident des Kneipp-Bundes

natur&ich: Herr Dr. Eisenlauer, warum haben sich – aus medizinischer Sicht – die Lehren von Sebastian Kneipp so lange gehalten?
Dr. Eisenlauer: Das Gesundheitskonzept nach Sebastian Kneipp hat sich seit 150 Jahren bewährt und ist zwischenzeitlich wissenschaftlich in vielen Bereichen belegt. Erst kürzlich wurde an der Charité in Berlin ein Ordentlicher Lehrstuhl für Naturheilkunde eingerichtet. Geleitet wird die Forschungsgruppe von Prof. Dr. Benno Brinkhaus, der sich schwerpunktmäßig mit dem Gesundheitskonzept nach Kneipp beschäftigt.

Das Gesundheitskonzept hat auch den Weg in das Medizinstudium, die Facharztausbildung für Physikalische Therapie und Rehabilitationsmedizin sowie in die Ausbildung zum Physiotherapeuten und Heilpraktiker gefunden. Man kann die Lehre als Basis der europäischen Naturheilkunde bezeichnen, vergleichbar mit der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM), die als Basis für die asiatische Naturheilkunde gilt.

natur&ich: Wie sind Sie selbst zu Kneipp gekommen?
Dr. Eisenlauer: Bei meiner Tätigkeit als Chefarzt einer orthopädischen Rehabilitationsklinik in Aulendorf kam ich über das Kneipp-Journal mit der Gesundheitslehre wieder in Kontakt. Ich unterstützte den Wunsch meines Trägers, die Klinik nach Kneipp zu zertifizieren. Das bedeutet, dass das Gesundheitskonzept in der Klinik umgesetzt wird. Den Patient:innen wird das Konzept für zu Hause an die Hand gegeben, um präventiv in Eigenverantwortung zu handeln. Dadurch kam ich auch mit dem örtlichen Kneipp-Verein in Kontakt und wurde zum Vorstand gewählt. 

Nach einem Wochenendaufenthalt in Bad Wörishofen begann ich für Kneipp zu brennen. In der Folge wurde ich in den Beirat des Kneipp-Bund Landesverbandes Baden-Württemberg gewählt, war dann 2 Jahre kommissarischer Vorstand und bin jetzt als Vizepräsident in das Präsidium des Kneipp-Bundes nachgerückt. Dieses Nachrücken war notwendig, da der Präsident des Kneipp-Bundes, Herr Klaus Holetschek, zum Gesundheitsminister in Bayern berufen wurde.

natur&ich: Können Sie in ihrer Tätigkeit als Orthopäde von der Kneippschen Anwendungen in Ihrer Praxis profitieren?
Dr. Eisenlauer: Ja. Viele Therapieverfahren und Sekundärpräventionsempfehlungen leiten sich aus der Kneipplehre ab. So gibt es einige Behandlungsmaßnahmen, die wir regelmäßig empfehlen: Bei akuten Schmerzen rate ich zum Beispiel zu kalten Wickeln mit Quark, Retterspitz oder Kohlblättern. Auch Güsse, besonders Kniegüsse, helfen enorm. Im inaktiven Stadium helfen warme Wickel oder Packungen mit Moor oder Fango, Kirschkernsäckchen oder ich rate zu einem Heublumenvollbad. Pflanzliche Medikamente mit Teufelskralle, Arnika, Beinwell und andere finden sich in meinen Therapien ebenfalls wieder. Im Übrigen sind viele pflanzliche, bzw. natürliche Heilmittel für alle möglichen Beschwerden auf der Medikamentenempfehlungsliste der NADA (Nationale Anti-Dopingagentur) zu finden.

Heilpflanze Beinwell
Die Heilfplanze Beinwell wird bei Naturheilverfahren oft eingesetzt.

Eine weitere Empfehlung ist die Bewegungstherapie, moderate Bewegungen im schmerzfreien Bereich und die Verordnung von Wassergymnastik. Ferner gebe ich Ernährungshinweise mit wenig Fleisch, Wurst und Eiern sowie keine bzw. wenig Genussmittel wie Schokolade, Cola, Kaffee oder Alkohol.

Zur Entspannung werden regelmäßige Spaziergänge empfohlen. Drei Mal in der Woche, ein bis zwei Stunden laufen, ist einfach gesund. Dazu einen ausreichenden Schlaf von möglichst acht Stunden ist perfekt.

natur&ich: Naturheilverfahren geraten immer stärker in das Interesse – auch bei der jüngeren Generation. Können Sie sich diese Entwicklung erklären?
Dr. Eisenlauer:
Eine Zuwendung zur Natur ist unverkennbar. Themen wie Fridays For Future, vegetarische/vegane Ernährung oder das Tierwohllabel werden gerade in der jüngeren Generation intensiv diskutiert. Viele Inhalte und Argumente haben dabei eine Nähe zum Gesundheitskonzept nach Kneipp. So sollen Lebensmittel regional, saisonal und die Ernährung ausgewogen sein.

Das Spazierengehen feiert zu Corona-Zeiten ein Comeback. Denn schon Kneipp wusste: „Der beste Weg zur Gesundheit ist der Fußweg“. Weitere Schnittmengen findet man beim Trend zur Pflanzenheilkunde. „Die Natur ist die beste Apotheke“, so Kneipp und ergänzte in seinem Thema der Lebensordnung: „Wer gesund leben will, muss geregelt leben, arbeiten und einen Lebenszweck haben“. Das Thema Wasser spielt bei der jungen Generation aber keine Rolle. Dabei wusste schon Kneipp, dass Tautreten das natürlichste und einfachste Abhärtungsmittel ist. Auch ein Augenbad bei langer Bildschirmarbeit wäre oft hilfreich.

Das Spazierengehen und Wandern feiert auch in der jungen Generation ein Comeback.

natur&ich: Auch im Gesundheitswesen findet ein Umdenken statt. Sehen Sie das auch so?
Dr. Eisenlauer:
75% der Bevölkerung wünschen sich eine integrative Medizin, also das Miteinander von Natur und Schulmedizin. Besonders chronisch Kranke erfahren durch zusätzliche Anwendungen der Naturheilkunde eine Verbesserung der Lebensqualität.

Leider müssen sie diese Leistungen selbst bezahlen. Hier gibt allerdings die Vorlage des neuen Präventionsgesetzes im Bund Hoffnung, das im besten Fall in den neuen Koalitionsvertrag nach der Bundestagswahl mit aufgenommen wird. So soll die Schul- und Naturmedizin gleichberechtigt werden und in einem ganzheitlichen Ansatz Anwendung finden. Die Kampagne „Weil‘s hilft“ soll das Bemühen unterstützen. Viele chronisch kranke Menschen wollen etwas für sich tun, wollen agieren und nicht nur erdulden. Das sollte nicht am Geld scheitern. Auch hier findet man Kneipp wieder: „Nicht alle Kranken sind in gleicher Weise unglücklich“.

natur&ich: Zurück zu Sebastian Kneipp. Was imponiert Ihnen an seinen Lehren besonders und worauf sollte man bei der Anwendung achten?
Dr. Eisenlauer:
Das Gesundheitskonzept ist so aktuell wie nie, gerade auch in der Pandemie. Es schützt vor Krankheit und ist für Alle – ob jung oder alt – einfach umsetzbar, ohne Kosten zu verursachen. Kneipp sagte: „Gesundheit bekommt man nicht im Handel, sondern durch gesunden Lebenswandel.“

Frisches Gemüse am Marktstand
"Eine Dekompensation des Gesundheitssystems kann nur durch eine gesunde Lebensführung verhindert werden."

Jeden Tag fallen im Gesundheitswesen Kosten in Höhe von ca. 1 Milliarden Euro an. Etwa 50 Prozent der anfallenden Kosten werden durch Krankheiten verursacht, zum Beispiel Herzinfarkt, Bluthochdruck, Schlaganfall, Diabetes mellitus, Adipositas, Tumorerkrankungen, Demenz, und vieles mehr. Meistens könnten die Erkrankungen durch eine gesunde Lebensführung vermieden oder positiv beeinflusst werden. Das ist wissenschaftlich zweifelsfrei bewiesen. 

Bei weiter sinkender Bevölkerungszahl und zunehmender Überalterung sowie längerer Lebensdauer kann eine Dekompensation des Gesundheitssystem nur durch eine gesunde Lebensführung verhindert werden. Das heißt, dass die Bevölkerung möglichst lange gesund bleibt und möglichst gesund altert. Auch die Personalressourcen in Krankenhäusern und Altenheimen werden knapp (weniger Erwerbstätige, mehr Rentner). Wir haben nicht zu wenig Personal oder Betten – wir haben zu viele Kranke und Pflegebedürftige. Somit ist das Gesundheitskonzept nach Kneipp auch eine Investition in die Zukunft.

natur&ich: Gibt es eine ganz persönliche Anwendung, die Sie selbst täglich praktizieren?
Dr. Eisenlauer: Ja, den kalten Knieguss nach dem Duschen. Aufwand und Kosten gehen gegen null und trotzdem habe ich einen hohen Nutzen! Es stärkt mein Immunsystem, normalisiert den Blutdruck und hält meine Kniearthrose schmerzfrei. Dass der kalte Knieguss wirkt, wurde auch schon wissenschaftlich nachgewiesen.

Wir bedanken uns herzlich für dieses Gespräch!

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